Sie war eine mittellose Halbwaise, die im Hause des gebildeten Onkels, des Schweizer Arztes und Wachsfigurenkünstlers Philipp Curtius, Obdach findet.
Der Meistermodellierer war ein gefragter Mann: Denn in den letzten 20 Jahren des Ancien Régime brodelt es in Paris, und dank seiner Formbarkeit ist Wachs das ideale Medium, um die wandelnde Gesellschaft abzubilden welche, zerrissen zwischen Arm und Reich, Alt und Neu, Religion und Säkularisierung waren. Marie schaut ihrem Onkel zu und lernt dabei: die Wachsarten zu mischen, Zähne, Augen und Haar einzusetzen, die Oberfläche der Abgüsse zu Köpfen und zu formen.Ihr Onkel Curtius erkennt das Talent und wird ihr Mentor – und verblasst dabei im Schatten ihres Ruhms.
Sie erlebt das untergehende Königshaus im vorrevolutionären Paris, das viktorianische England. Sowie Kerkerhaft, Schiffbruch, Feuersbrünste, Napoleonische Kriege. All das überlebt Marie – trotz ihrer Dienste für den König.
Der Preis dafür ist hoch: Sie muss für die Sansculotten Abgüsse der Enthaupteten machen, von Marie Antoinette bis Prinzessin Elisabeth. Von einer Augenzeugin geschaffen, erheben sich ihre Schaustücke über die reine Kunst zum verbindlichen Protokoll der Französischen Revolution. 1904 sollte Sir Arthur Conan Doyle, Erfinder von Sherlock Holmes, sagen: "Sie ist verantwortlich für ein fest umrissenes Bild einer besonders schrecklichen Epoche."
Die voyeuristische Faszination für Glamour und Skandal, für Aufstieg und Fall von Stars war dazumal so groß wie heute. 1761 in einfachen Verhältnissen in Straßburg geboren, lernt Marie Grosholtz schnell, was den Erfolg des Meisters ausmacht: Curtius macht das Private öffentlich – mit dem Wachs als wirkungsmächtigem Medium zur Vermarktung der Monarchie und Beeinflussung der öffentlichen Meinung.
Seine Ausstellung macht das Leben am Hof zur königlichen Peepshow, da gibt es Szenen des Grand Couvert – der öffentlichen Speisezeremonie, der der Pöbel beiwohnen darf –, oder Marie Antoinette, die sich als lebensgroße Figur in eine Femme fatale aus einem Fantasieboudoir verwandelt, in dem man förmlich das Rauschen der Röcke hören und den weißen Puder riechen kann. Marie Antoinette ist Machthaberin und Modeikone zugleich, Kopien ihrer Figur transportierten für die Modeindustrie lebenswichtige Informationen bis nach Konstantinopel und St. Petersburg.
Es sind illustre Kreise, in denen Marie sich bewegt. Voltaire, Marat, Rousseau, Benjamin Franklin und Mirabeau gehen bei der Familie ein und aus, und wenn im Ofen die elsässischen Kasserollen der Mutter dampfen, kann selbst Joseph II., der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, nicht widerstehen.
Demnach werden die Dinnerparties bald durch Bankette in Versailles ersetzt. Dort will Marie acht Jahre lang als Kunstlehrerin von Prinzessin Elisabeth, der Schwester von Ludwig XVI., gelebt haben. Und trat dort in Curtius' Fußstapfen. Auf die sorglosen Jahre am Hof folgen die Wirren der Revolution.
Doch auch auf der Bühne des Terrors ergattert Marie eine Hauptrolle. Zwar fällt sie in Ohnmacht, als Marie Antoinette zum Gespött der Öffentlichkeit ohne falsche Zähne und Perücke zum Schafott geführt wird, ist aber rechtzeitig wieder bei Bewusstsein, um stoisch ihren Kopf aus der blutsaugenden Sägespäne aufzulesen – und ihn dann in Wachs zu gießen. Sie heiratet François Tussaud erst spät, und bekommt zwei Kinder – mit 39 und 41 Jahren.
Als sie noch klein sind, schifft sie sich mit dem älteren Sohn, 33 Wachsfiguren, aber ohne Mann nach England ein – und kehrt nicht wieder. Stattdessen führt sie ein Nomadenleben, reist 27 Jahre lang mit ihrer Mixtur aus Hoch- und Popkultur durch das Land, bedient den neuen Massenmarkt, eine ganze Mittelschicht samt Familie.
Madame Tussaud durchbricht die kulturelle Apartheid mit Vergnügen. Die National Gallery etwa durfte nur betreten, wer lesen und schreiben konnte. Das Wachsfigurenkabinett war für alle da. Und sie standen schon damals Schlange, um die Mischung aus historischen Stoffen, aus Nachrichten, Klatsch und Tratsch zu erleben, um Monarchen, Schauspielerinnen, Society-Girls, Staatsmännern, gar Kriminellen näher zu kommen.
Die schnelllebige Gesellschaft war ein Segen für ihr Geschäft. Wer nicht mehr "in" war, verlor seinen Kopf – im revolutionären Frankreich eine unheilvolle Vorahnung vom Schafott und später und immer ein Sinnbild für die Vergänglichkeit von Ruhm.
Die nur die Meisterin selbst konterkariert. Als Madame Tussaud mit 90 Jahren stirbt, hat die Erfindung des Starkults sie unsterblich gemacht. Und ihr darin einen Logenplatz auf Lebenszeit gesichert.