Bundespräsident Heuss, Rundfunkansprache vom 6. September 1950: "Am Mittwoch, den 13. September, wird auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland eine umfassende Volks- und Berufszählung stattfinden. Sie ist durch Bundesgesetz angeordnet. Das heißt, der Staat fordert die gewissenhafte Beantwortung der Fragen. Er kann sie im Weigerungsfall durch Strafe erzwingen."
Ernste Worte aus dem Mund von Bundespräsident Theodor Heuss. Eine Rundfunkansprache des ersten Mannes im Staat soll die Bürger beruhigen. Nach einer Gebäudezählung im September 1945, einer Personen- und Berufszählung nur drei Monate später und den Erhebungen der Entnazifizierungskommissionen haben die Bürger der jungen Bundesrepublik von Fragen genug. An der Volkszählung vom 13. September 1950 führt dennoch kein Weg vorbei.
Heuss: "Zur Kenntnis und Erkenntnis der großen Tatschen bedarf es einer an einen bestimmten Stichtag gebundenen Bilanz. Wenn sie auch am Tag danach schon in tausend Einzelzügen überholt sein mag und überholt sein wird, da das Leben ewige Änderung ist, so gibt der Querschnitt doch einen Ausgangspunkt für realistische Überlegungen."
Die Volkszählung von 1950 wird abgehalten auf Empfehlung der Vereinten Nationen. Ein herausragendes Ereignis, denn sie erfolgt im Zuge des "Welt-Census 1950", der ersten weltweiten Volkszählung zu einem einheitlichen Zeitpunkt. Gezählt wird in den 67 Mitgliedsstaaten der UN. 1,75 Milliarden Menschen, drei Viertel der gesamten Weltbevölkerung, werden erfasst.
Auf Deutschland entfallen 47 Millionen 695 Tausend 672 Bürger. Bevor diese Zahl ermittelt ist, müssen alle Haushalte aber zunächst mehrseitige Fragebögen in Tageszeitungsgröße ausfüllen. Bundespräsident Heuss macht Mut.
Heuss: "Warum sage ich das? Weil dieser oder jener vor dieser oder jener Frage sagen mag, was ist das für eine überflüssige Neugier? Aber seine Antwort begegnet der Antwort des anderen (...). Die Antworten, indem sie sich sammeln und gruppieren, ergeben Gliederungen, Einsichten, Maßstäbe. Und diese zu finden, wird der eigentliche Sinn."
Besonders interessant sind im kriegszerstörten Deutschland Angaben über Gebäudebestand und Wohnraumbelegung. Schnell und gezielt soll auf diese Weise Fehlendes ergänzt werden, denn auch fünf Jahre nach Kriegsende hausen noch Tausende von Menschen in Baracken, Notwohnungen oder Ruinen.
Außerdem sind über die Hälfte der intakten Wohnungen durch Zwangseinquartierungen überbelegt, das heißt in jedem Raum leben zwei Personen und mehr. Trotzdem wecken Fragen, zum Beispiel nach der Identität im Haushalt vorübergehend Anwesender und den Gründen für ihre Anwesenheit, Misstrauen. Der Bundespräsident beruhigt:
Heuss: "Der Gesetzgeber hielt es aus psychologisch sehr verständlichen Gründen für notwendig, den Befragten mitzuteilen, dass keine polizeilichen, steuerlichen oder wohnungswirtschaftlichen Zwecke verfolgt werden. Die Haushaltungsliste, heißt es, kommt weder der Polizei, noch dem Finanzamt, noch dem Wohnungsamt zu Gesicht."
Trotzdem ist ein neues Bundesgesetz notwendig, um die Zählung durchzuführen. Das Volkszählungsgesetz vom 27. Juli 1950 ist eine der ersten Vorlagen des gerade zwei Jahre existierenden Deutschen Bundestages.
Die Fragen sind verteilt über die so genannte Haushaltungsliste, die Gebäudeliste, den Wohnungsbogen und fallweise die Anstaltsliste. Jeder Bogen umfasst vier Seiten, jede doppelt so groß wie ein Briefbogen. Trotz der enormen Datenflut liegen schon zwei Wochen nach der Zählung die Ergebnisse vor, auch rekordverdächtige.
So sind zum Zeitpunkt der Zählung beispielsweise 70 Deutsche älter als 100 Jahre. Oder 24 Verheiratete jünger als 15. Heutzutage verhindern Datenschutzbestimmungen, dass jemals wieder eine Volkszählung so detaillierte Erkenntnisse über die Deutschen liefern wird, wie anno 1950, als Präsident Heuss seinen Mitbürgern sagt:
Heuss: "Diese Randbemerkungen zu unser aller Aufgabe am 13. September mögen genügen. Sie wollen und sollten nichts anderes als helfen, dass jeder mit gutem Willen und redlicher Gewissenhaftigkeit seine Pflicht erfülle."
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